herzlich willkommen! hier könnt ihr euch in zukunft über meine pläne und träume in und um brasilien informieren. viel spass, eure silvie

Dienstag, Juli 19, 2005

Infobrief 1

Bin gut hier angekommen (mit 12 Stunden Verspaetung), und habe schon so viel erlebt und war auch so busy, dass ich ewigs nicht dazu gekommen bin, mich mal bei allen zu melden.

Zur Zeit sind hier so ca. 30 Jugendliche aus Europa und den USA, die hier zwischen 2 und 4 Wochen einen Einsatz machen.

In der ersten Woche haben wir sie in die taegliche Arbeit des Projekts mit einbezogen und Ihnen einfach mal alles gezeigt. Wir haben Leute besucht, die unter Autobahnbruecken wohnen, sind mit Sandwiches und Getraenken vorbeigegangen und haben einfach Zeit mit ihnen verbracht. Es war extrem beeindruckend, wie dankbar die Leute waren, dass wir einfach nur vorbeigekommen sind. Einer hatte genau an dem Tag Geburtstag, so haben wir ihm ein Staendchen gesungen, und er und einer seiner Kollegen mussten sich die Traenen verkneifen. Wir haben ihn dann noch gesegnet und ihm gesagt, dass es keinesfalls ein Zufall war, dass wir ausgerechnet an seinem Geburtstag vorbeikommen sind, sondern dass Gott ihn mega liebt, und dass er ihn segnen wollte.

In den Autobahnbruecken sind so Loecher eingeschlagen, aus denen Seile herunterhaengen, dort wohnen einige der Leute. Die klettern dann da hoch und wohnen in der Bruecke drin.

An einem anderen Tag sind wir in besetzte Hauser gegangen, beispielsweise ein ausgebranntes Schulhaus, in dem sich arme Leute kleine Baracken gebaut haben, dort wohnen ca. 70 Familien! Auch dort haben wir immer Sandwiches und Saft mitgenommen und einen kleinen Gottesdienst gemacht.

In der 2. Woche gab es ein 5-taegiges Lager mit den Jugendlichen, Strassenkindern und einigen Familien aus der besetzten Schule zusammen. Die Jugendlichen aus Europa mussten fuer Ihren Sommer Einsatz ja etwas bezahlen und unter anderem wurde dadurch auch das Lager fuer die Strassenleute mitfinaziert. Es war einfach der Hammer!

Das Lager fand auf einer Art Anwesen statt, inmitten einer superschoenen Landschaft, wo es Pferde gab und die Kinder jeden Nachmittag reiten durften, es gab ein Swimminpool, ein ´Herrenhaus´, da war unten die Kueche und die Essraeume, und dann noch verschiedene Schlafraeume, Spieleraum mit Billard und Tischfussball und noch so viel mehr...

Der Demetri (Leiter von New Chance International) hat an einem Nachmittag ein paar Kinder interviewt und gefilmt und gefragt, was ihnen am Lager am Besten gefaellt. Der eine sagte, dass es 5 mal am Tag etwas zu essen gibt, der andere, dass er sich hier jeden Abend in ein weiches Bett legen darf (jemand von uns hatte sich gerade noch ueber die harten Betten beklagt...), jemand anderes sagte, die Luft sei so frisch hier und so viel Natur, und ein Kind sagte, ihm gefalle es, dass es hier keine Gewalt gaebe.

Es war einfach so der Hammer, zu sehen, wie die Kinder im Swimmingpool rumgetobt haben, und zu wissen, dass ihr Alltag so ganz anders aussieht. Es war auch bewegend zu ueberlegen, dass eigentlich alle Kinder so aufwachsen sollten, wie wir in dem Camp gelebt haben, unbeschwert, ein Bett und Dach ueber dem Kopf, genug zu Essen und mit Leuten, die den Kindern Liebe schenken. Die deutschen und schweizer Jugendlichen konnten ueberwiegend kein Portugiesisch, aber wir haben alle die Zimmer miteinander geteilt, und jeder Jugendliche sollte sich fuers Camp 1-2 Kinder oder Erwachsene ´aussuchen´ als eine Art Pate, mit denen wir dann immer wieder extra Zeit verbracht haben und es gab einen Wettbewerb, welcher Pate am Ende des Camps am meisten Portugiesisch von seinem Schuetzling beigebracht bekommen hat J - das war superlustig...

In unserem Zimmer haben noch 3 Geschwister geschlafen, die sind daheim zu 10t und NCI hat ihnen gerade ein Haus fertig gebaut. Der aelteste Bruder, Michel, war 6 oder 7 Jahre auf der Strasse gewesen, weil daheim so miese Verhaeltnisse herrschten. NCI hat ihn schon vor einiger Zeit kennengelernt und als sie einmal sein zuhause besucht hatten, haben sie beschlossen, fuer diese Familie ein Haus zu bauen. Mittlerweile wohen alle Kinder wieder zu Hause, ist das nicht genial???

Die Maedels haben – so wie die Strassenleute eben – immer unter einigen Decken komplett eingemummelt gepennt. Am letzte Abend, nach einem ganz tollen Kinderfest im Freien, wo sich viele der Mitarbeiter ziemlich aufwendig verkleidet und geschminkt hatten und auch die Kinder geschminkt wurden, kam ich in unser Schlafzimmer und ich haette fast geweint bei dem Anblick von einem der kleineren Maedchen. Sie lag so friedlich da, mit einem verklaerten Gesichtsausdruck, beide Arme von sich gestreckt und man konnte noch die Farbe von den beiden Herzen sehen, die wir Ihr auf die Wangen geschminkt hatten. Ich kann Euch nur eins sagen, fuer so einen Moment hat sich bereits mein ganzer Trip nach Brasilien mehr als gelohnt!

Es ist einfach unglaublich, welche Veraenderung in so wenigen Tagen durch Liebe und Freundschaft allein geschehen kann. Und am krassesten war es bei den Menschen, die ihr Leben Jesus gegeben hatten.

Zum Beispiel Elisangela. Sie ist 20 Jahre jung, hat schon 3 Kinder und ist mit dem 4ierten schwanger. Am Anfang war sie mir nicht so arg sympathisch, sie hatte halt eine recht negative Ausstrahlung und ist auch mit ihren Kindern etwas lieblos umgesprungen. Sie wurde sehr von den Gottesdiensten beruehrt und hat viel geweint. Dann hat sie gesagt, dass Sie ihr Leben Gott anvertrauen moechte und an ihn glauben will!

Spaeter habe ich dann fuer sie und ihre Patin uebersetzt und sie war dann ziemlich komisch drauf und meinte, es sei ja schon schoen und gut auf dem Camp, aber wenn die Leute wieder auf der Strasse seien, dann sei alles wieder beim Alten. Ihre Patin heisst Vicky und hat versucht Ihr zu erklaeren, dass Gott jetzt in ihrem Leben ist, und ihr helfen wird, auch wenn es schwer ist. Sie war aber sehr resigniert und sagte, dass es doch keinen Sinn habe, und sie auch nicht zur Kirche gehen wuerde, da sie schon in vielen war und die starke Vorurteile gegenueber Strassenleuten haben und ihr nicht helfen wuerden. Der Vicky hat das so viel ausgemacht und sie musste sogar weinen und so hat sie einfach nicht locker gelassen und gesagt, dass es nicht wahr ist, dass das Leben so weitergehen muss wie zuvor, sondern dass Gott wirklich die Kraft hat, eine Situation zu veraendern, wenn sie es nur zulaesst. Aber Elisangela war irgendwie echt komisch drauf und mir schien es, als wollte sie sich gar nicht veraendern.

Am letzten Abend hatten wir draussen im Freien noch einen wunderschoenen Gottesdienst mit Lagerfeuer. Und zu Anfang kam Elisangela und meinte, sie wolle uns noch etwas erzaehlen. Sie sagte, dass sie einer Person hier einen grossen Dank schuldig sei: der Vicky. Sie sei auf das Camp gekommen, mit der Einstellung, dass sie allenfalls ein bischen Spass haben wuerde, sonst aber eher mit einer sehr resignierten Einstellung. Sie hatte nicht gedacht, dass Ihr Leben einen grossen Sinn macht, hat auch schon Selbstmordversuche hinter sich und findet das Leben furchtbar, schreit Ihre Kinder viel an, und sie wohnen halt auch in dieser besetzten Schule, die von der Polizei geraumt werden soll (der Termin ist uebrigens morgen, Dienstag!).

Und sei sie auf das Camp gekommen, und die Leute haben sich so viel Muehe gegeben, besonders Vicky, und sie war so beruehrt, dass jemand sogar fuer sie weint. Zuerste habe sie gedacht, dass sei gekuenstelt, aber dann sei ihr klar geworden, dass es der Vicky und auch den anderen Mitarbeitern vom Projekt wirklich ernst ist, und ihnen ihr Schicksal wirklich am Herzen liegt. Und dann hat sie Vicky und uns allen gedankt, dass wir sogar aus einem anderen Land hergekommen sind, um ihnen dieses Camp zu ermoeglichen, sie zu ermutigen und ihnen zu sagen, dass Gott sie liebt, und dass ihm ihre Leben NICHT gleichgueltig sind. Das habe sie so dermassen beruehrt und veraendert. Sie habe jetzt wieder Mut und Hoffnung, dass ihr Leben sich zum guten wenden wird.

Ich kann Euch einfach nicht mit Worten beschreiben, was hier abgeht. Aber ich mochte die Elisangela am Ende dieser 5 Tage einfach ploetzlich leiden. Das Negative war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie hatte einen komplett anderen Gesichtsausdruck und strahlte mega!

Gestern waren wir wieder in der besetzten Schule und es war toll, viele der Kinder und Erwachsenen wieder zu sehen. Elisangela hat mir erzaehlt, dass andere Hausbewohner schon gefragt haben, was mit ihr passiert sei, sie habe sich so positiv veraendert. Sie haben sich wohl gefragt, warum sie keinen Streit mehr anfaengt vorne in der Kueche beim Geschirrspuelen (die Kueche ist fuer das ganze Haus), und warum sie ihre Kinder nicht mehr anbruellt !!

Leider soll morgen das Haus von der Polizei geraeumt werden. Es ist der absolute Schwachsinn, so wuerden 72 Familien wieder auf der Strasse stehen. Es gibt von der Stadt Sozialwohnungen, aber meistens bekommen diese die falschen Leute. Es macht so dermassen keinen Sinn, die Stadt wuerde besser die Leute da wohnen lassen, statt Sozialwohnungen zu schaffen, von denen die betroffenen Personen dann doch nicht profitieren koennen.

Die Bewohner der Schule haben uns gestern zwar gedankt, dass wir vorbeigekommen sind und alles, aber manche haben uns halt angeklagt, dass wir ja auch nichts machen wuerden, und dass es schoen und gut ist, dass Gott theoretisch helfen kann, aber warum wir denn nicht kaemen am Dienstag. (Wir hatten ihnen gesagt, dass wir nicht da sein koennen, denn heute waeren wir theoretisch an den Strand gefahren fuer 3 Tage).

Als wir heute morgen in den Bus steigen wollten, hiess es ploetzlich, dass wir noch auf Damaris (Frau von Demetri) warten muessten, weil es vielleicht noch eine Aenderung gaebe. Wir haben fast eine Stunde gewartet, dann ist sie gekommen und hat uns gesagt, dass wir nicht an den Strand fahren wuerden, sondern dass sie gerade aus einer Besprechung mit den ´Anfuehrern´ der besetzten Schule kaeme und sie sich mit den anderen Mitarbeitern von NCI einig geworden sind, dass wir etwas tun muessen. Wir haben diese Leute kennen und lieben gelernt, und jetzt wollen wir nicht nur Worte, sondern auch Taten sprechen lassen.

Wir werden morgen um ca. halb 4 dort auftauchen um bei den Leuten zu sein, wenn sie rausgeschmissen werden. Die Polizei wird ab ungefaehr 5 Uhr die Strassen dort abriegeln und alle Bewohner zwischen 6 und 7 Uhr rausschmeissen. Die Polizei hier ist eben nicht wie bei uns... und da wird auch schon mal gepruegelt, egal ob es Kinder sind oder nicht. NCI hatte angeboten, dass alle Kinder heute abend schon bei uns im Projekt untergebracht werden, damit sie in Sicherheit sind. Aber die Anfuehrer der Invasion wollten das nicht, da auch Journalisten kommen werden und filmen, und wenn Kinder mit dabei sind, dann bewegt das die Menschen, die das dann im TV sehen eben mehr. Ist eben auch sehr politisch und berechnend.

Wir haben uns entschlossen, heute Nachmittag Transparente fuer morgen zu malen. Wir werden ausdruecken, dass wir nicht einverstanden sind mit dem, was hier abgeht und aus welchen Nationen wir kommen. Es wird eine andere Wirkung haben, wenn die Menschen sehen, dass Leute aus aller Welt aufstehen und sich fuer die Not dieser Menschen einsetzen. Zum anderen wird es die Polizei daran hindern, Gewalt anzuwenden, denn wenn Auslaender da sind, haben sie mehr Angst, dass sie aus dem Ausland dann angezeigt werden. Bei Brasilianern waere das anders, die Polizei ist eine einzige Mafia, und die Korruption geht bis in die Regierung und die Gerichte.

Diejenigen von Euch, die moechten, bitte betet fuer die Stadt und fuer ein Wunder, dass die Schule doch nicht geraeumt wird!

Ich hatte selber nicht gedacht, dass mein Brief so lang wird... Ich danke Euch, dass Ihr ihn bis zum Schluss gelesen habt, jetzt wisst ihr ein bischen mehr, was wir hier so machen, und was alles so abgeht in Sao Paulo.

Mir geht es gut, und es ist fuer mich ein Vorrecht, all dies mitzuerleben! Bitte habt Verstaendniss, dass ich im Juli und August nicht immer so regelmaessig ins Internetcafe komme um Euch auf mails zu antworten, da ich recht eingespannt bin mit allen Aktivitaeten und mit den Jugendlichen, die hier sind. Fuer diejenigen, denen ich meine Nummer gegeben habe: sie stimmt schon nicht mehr, das Projekt musste sie aus Sicherheitsgruenden aendern.

Ich werde aber hoffentlich bald noch schreiben, wie es mit der besetzten Schule weiterging.
Alles, alles Liebe und passt auf Euch auf,

Eure Silvie