herzlich willkommen! hier könnt ihr euch in zukunft über meine pläne und träume in und um brasilien informieren. viel spass, eure silvie

Mittwoch, November 02, 2005

Infobrief 2

Liebe Freunde!

Hier kommt also endlich der 2. Brief, mittlerweile nicht mehr aus Sao Paulo, sondern aus Lörrach in Süddeutschland.

Ich bin bereits über einen Monat wieder aus Brasilien zurück, mein 3-monatiges Touristenvisum ist abgelaufen und ich kümmere mich zur Zeit um ein neues, 1-jähriges Visum. Wenn alles klappt möchte ich gerne im Januar wieder ausreisen.

Unterdessen ist mir auch noch nicht langweilig geworden, ich geniesse meine Eltern und Schwestern mal ein bisschen öfter und ausgiebiger zu sehen.

Im November werde ich bei einer Vortragstour von unserem Projekt mit dabei sein. Dort wird in einem DVD die Situation in Brasilien und das Projekt vorgestellt, eine in Deutschland lebende Brasilianerin, die früher selbst einmal Strassenmädchen im Norden Brasiliens war, gibt einen Erlebnisbericht, Damaris, die Gründerin des Projekts, wird sprechen, stellt einige ihrer Bücher vor und zeigt einen Erlebnisbericht ihres Mannes Demetri ebenfalls auf DVD. Die Termine sind fast alle in der Schweiz (einen Kalender dazu findet Ihr anbei).

Aber nun zu der Fortsetzung der Geschichte mit dem besetzten Haus…

Wir hatten uns irgendwann zwischen 4 und 5 Uhr morgens gegenüber von der abgebrannten Schule zu ca. 30 Leuten mit Kerzen, Transparenten und der obligatorischen Gitarre J eingefunden. Die meisten der über 70 Familien, die dort lebten waren schon auf und einige auch schon im Hof unten. Es war ziemlich kalt und wir waren recht gespannt, wann die Polizei eintreffen würde um mit der Räumung zu beginnen. Eine Familie hatte bereits einen Pickup beladen und fuhr ab, bevor irgendjemand sie rausschmeissen konnte.

Damaris war mit ihrer Filmkamera da und unsere brasilianischen Leiter Ney und Fernanda waren immer wieder mit dem Anführer des besetzten Hauses in Kontakt, zum sehen, was als nächstes passiert. Das Tor vor der Schule war noch nicht verriegelt, und sie erklärten, dass sobald die Polizei auftauchte, alles abgeschlossen werden sollte, um zu signalisieren, dass sie nicht freiwillig gehen würden. In der Regel bricht dann die Polizei das Tor gewaltsam auf, und sie gehen dann anscheinend auch nicht zimperlich mit den Leuten um, wenn sie sie rausschmeissen.

Das haben wir dann auch gemerkt, als dann nach und nach ein wahnsinnns Aufgebot von Krankenwagen auffuhr. Ich rede von zum Teil richtigen Bussen, wie ich sie bisher nur bei Grosseinsätzen bei schlimmen Unfällen gesehen habe. Da hat man sich schon gefragt, was die genau vorhaben…

Kurz danach fuhren dann noch mal so viele Umzugswagen von professionellen Umzugsunternehmen vor und parkten so gut es ging irgendwo in der Nähe und in Seitenstrassen.

Danach ging lange gar nichts mehr. Es wurde hell, wir hielten immer noch die Kerzen in der Hand und sangen was das Zeugs hielt J. Die Bewohner, die sich mittlerweile immer zahlreicher im Innenhof hinter dem Eisenzaun versammelt hatten, haben uns zwischendurch mal einen Dankesapplaus gegeben, das fand ich echt berührend. Einige ihrer Kinder kannten wir ja noch, von dem Camp auf dem Bauernhof, auf das wir sie mitgenommen hatten. Dann wurde das Eisentor verriegelt.

Was wir erst später mitbekommen hatten: einer der Richter, die anscheinend bei so einer Räumung dabei sein müssen, ist immer wieder durch die Strasse gefahren, ohne zu halten, um sich den „Zirkus“, den unsere Gruppe veranstaltet hat, anzuschauen. Anscheinend haben die so was noch nicht erlebt und waren recht verunsichert.

Allmählich waren immer mehr „wichtige“ Personen von der Stadt, der Polizei und wer weiss von wo noch, sowie Journalisten vor der Schule versammelt und es hiess, man verhandle gerade, ob die Räumung verschoben werden könne. Was sich dann aber leider zerschlagen hat. Ein Aufschub hätte ja auch nicht wirklich was gebracht.

Als dann klar war, dass das Haus geräumt wird, ging es aber auch zur Sache. Ich weiss nicht, ob ich schon mal so viele Polizisten und so genannte Militärpolizisten auf einem Haufen gesehen habe. Die Militärpolizei trug Schilder, Helme, Knüppel und kniehohe Stiefel. Der Anblick, der sich mittlerweile auf der Strasse bot war schon krass. Viele Anwohner und Passanten, die ganzen Möbelpacker und unsere Gruppe schauten alle angespannt zu, was denn jetzt als nächstes passieren würde.

Und dann gegen Mittag war es so weit, die Polizei schlug das Schloss am Eisentor auf. Viele der Hausbewohner haben geweint und sich in den Armen gehalten, wir haben gesehen, wie einer der Möbelpacker und auch ein Polizist geweint hat und auch von unserer Gruppe haben viele geheult. Es war halt so eine Anspannung gewesen und irgendwie hatten wir ja gehofft, dass die Räumung doch noch abgewendet werden könnte.

Der weitere Teil der Räumung verlief sehr friedlich, die Bewohner sowie die Möbelpacker schleppten die Habseligkeiten der Leute aus dem Haus um sie in den Möbelwagen zu verfrachten. Das Ganze wird wohl in Lagerhallen aufbewahrt, wo die Leute ihre Sachen innerhalb einer bestimmten Frist abholen können. Die geräumte Schule wurde später mit Brettern verbarrikadiert und Tag und Nacht von einem Wachdienst bewacht. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt wo ich wieder abgereist bin wurde es immer noch bewacht.

Einige der Familien, die wir kannten, haben sich in einer Favela behelfsmässige Baracken gebaut. Pastor Ney und seine Frau Fernanda haben sie kurz danach dort besucht. Natürlich hatten sie nicht mal das Nötigste da, und vor allem nichts gescheites zu Essen. Alles war sehr provisorisch. Also haben Ney und Fernanda Essenspakete aufgetrieben und ich durfte mitfahren, und die Pakete dort abgeben. Der ehemalige Anführer der Schule war auch dort und er war ein ziemlich rauer Typ wie ich ihn einschätzte. Aber er hat voll Tränen in den Augen gehabt und hat sich bedankt, dass wir so zu ihnen halten.

Ich glaube, die Tatsache, dass sich eine Gruppe von jungen Menschen einfach mal stark macht und sich mit Leuten, die sonst keine Stimme bekommen, hat alle Beteiligten sehr berührt und einen tiefen Eindruck hinterlassen. Viele Leute haben uns gesagt, es sein ein absolutes Wunder, dass die Räumung so friedlich verlaufen sei, vielleicht ist das sogar das grössere Wunder, als das worauf wir insgeheim gehofft und dafür gebetet hatten.

Ich glaube, wenn ich jemals so richtig stolz darauf war, einen Unterschied und etwas Sinnvolles gemacht zu haben, war es in dem Moment.

Jedenfalls bin ich begeistert von dem Team, mit dem ich dort arbeite und ich freue mich schon darauf, wieder zurück zu gehen. Es gibt viel zu tun, viele Ideen, auch unsere Leiter haben noch viel vor und manches ist noch in den Kinderschuhen. So bleibt es wenigstens spannend.

Es gäbe noch viel zu erzählen, aber ich wollte ja eigentlich nur 1 Seite schreiben diesmal, um Euch nicht zu sehr zu strapazieren… Hat nicht so richtig geklappt, hm. Aber ich spar mir den Rest für ein andermal.

Danke noch für Eure Feedbacks auf den letzten Brief, darüber hab ich mich echt sehr gefreut!

Bis bald,
Silvie